andrea witzmann

Witzmanns Fotografien entstehen bei Erkundungsstreifzügen, die geprägt sind von mancherlei verwirrender Wegführung und erstaunlichen Trouvaillen am Wegesrand die den Blick auf eine vermischte Landschaft voller Poesie und Abgründigkeit eröffnen. Menschen selbst stehen selten im Mittelpunkt dieser Arbeiten, vielmehr ihre Spuren, Hinterlassenschaften, Ordnungssysteme, Projektionen und Sehnsüchte. Witzmanns Fotografien lassen viel Raum für die "Eigenwüchsigkeit der Dinge" (Byung-Chul Han), für die Narration entlang der Zeitachse des So-Gewesen-Seins bis zum Moment des Betrachtens im Ausstellungsszenario. Als Orientierungshilfe finden wir sprechende Bildtitel zum Geleit, die eine Erzählung eröffnen, sofern wir sie denken, nachvollziehen, ergänzen wollen mit unserem, den BertrachterInnen je eigenen assoziativen Bildervorrat.
"Biopsie", der Übertitel der aktuellen Ausstellung, ist ein der medizinischen Welt entlehnter Begriff, der die Entnahme am lebendigen Objekt bezeichnet, einen Ausschnitt zum Vergleich vorlegt. Dieses mikroskopische Verfahren wiederspiegelt in Grundzügen die künstlerische Arbeitsweise von Andrea Witzmann: die Gemengelagen von Gedächtnis und Personen und Wegen in Raum und Zeit zu verorten. Die installative Arbeit "Drei Wege zum See" in Anlehnung an Bachmanns gleichnamige Erzählung bringt die lang gestreckte Dimension des Ausstellungsraumes (seine Länge von 25 m entspricht exakt der Distanz im Hallenbogenschießen) mit der kartografischen Darstellung des Kreuzberges in Form von Höhenlinien zu einer signifikanten Zusammenschau: Weg und Ziel ergänzen sich komplementär, sind ein Schaubild mit lesbarem Resultat, das sich jedoch erst in der langsamen Annäherung erschließt.

Fast gleichlang ist Bachmann tot und Witzmann am Leben.
Unruhe zeichnet die Erzählerin in "Drei Wege zum See" aus. Immer in Unruhe! Sie flieht vor der Hektik des Alltags, hält es aber immer nur kurz im Nichtstun dieser ihrer Jugend aus. Etwas ohne (scheinbaren) Nutzen tun. Deswegen einer Markierung folgen, ein Ziel erreichen! Der Sinn ist das Abgehen des (Lebens)Weges, das Reflektieren vergangener Erlebnisse. Ich kann den Weg nicht finden. Sie kann den Weg nicht wiederfinden. Anfangs Unzufriedenheit wegen der ungewünschten Umkehr. Nach jedem weiteren gescheiterten Versuch beginnt das Ziel immer mehr in den Hintergrund zu treten. Fotografieren ist auch immer eine Unterbrechung des Fortschreitens. Zur Markierung der Erinnerung (Post It) im Raum-Zeitkontinuum. Die Unterbrechung für eine Pose hinter der Kamera.
Das Ziel, die Zielscheibe ist Surrogat und auch nur mehr eine Markierung. Kein Blut, kein brechendes Auge, keine schwindende Wärme. Die Berichterstattung über die willkürliche Enthauptung von Journalisten im Kriegsgebiet wird diesen Sommer zum ersten Mal global und ohne Bild im Fernsehen übertragen.
Meine Fotografien kommen in einem "Bild Sampling" aneinander zu liegen. Bildproben in programmatischem Kontext, denen ein Leitmotiv zugrunde liegt: Das Ziel. Der Weg offenbart Funktion und räumliche Koordinaten ohne Ablenkung. Durch die sich ändernden Jahreszeiten und Wetterbedingungen definiert sich aber jede wiederholte Begehung neu. Dem Ziel ist Erwartung eingeschrieben. Dem Weg nicht. Wenn ich den Weg beschreite ist das Handeln vom Ausgang magnetisch angezogen. Der Fluss fängt an zu fließen und muss irgendwann unweigerlich münden. Selbst kann ich dem nur zusehen. Ich vergesse, Markierungen im Buch zu machen und muss die Erzählung wieder lesen. Auch beim zweiten Mal. Ich will den Lauf nicht unterbrechen, das Weiter (machen) ist wichtiger als alles andere... Die Handlung dem Text zu überlassen lässt mich dem verzweifelten Festhalten des Augenblicks gelassener gegenüberstehen. Vielleicht auch weil ich mir nicht sicher bin wie die Erzählung Bachmanns denn nun endet. "Es kann mir etwas geschehen, aber es muss mir nichts geschehen."
biopsie 2014
color prints - 60 x 80cm
text_ulrike sladek
text_andrea witzmann